Flachsanbau und Flachsverarbeitung in Hinsbeck
Bis zu den Berichten des römischen Geschichtsschreibers Tacitus († nach 155) läßt sich zurückzuverfolgen, daß der Raum zwischen Niers, Schwalm und Roer als prächtiger Boden für den Flachsanbau gegolten hat. Es hatte sich sogar die Bezeichnung „het Flaasland" verbreitet. Das so beschriebene Gebiet endete nördlich von Krickenbeck. Der Flachsanbau ist eigentlich nichts Besonderes, denn er ist in jeder bäuerlichen Kultur anzutreffen. Die verstärkte Beschäftigung damit hängt vielmehr mit der zunehmenden Bodenknappheit durch die übliche Erbteilung zusammen. Die landwirtschaftlichen Flächen wurden an alle Kinder gleichmäßig vererbt und dann aus vernünftigen Erwägungen an den ältesten Bruder oder an die ältesten Brüder gegen mäßige Bezahlung übertragen. Weil das nicht grundsätzlich der Fall war, zersplitterten die Höfe immer mehr. Viele Bauern am Niederrhein konnten sich nicht mehr allein durch die Landwirtschaft ernähren und mußten sich auf Erzeugnisse spezialisieren, die Absatzchancen auf fremden Märkten hatten. Holzschuhe, Körbe, Besen und Ähnliches boten nicht so günstige Arbeitsgrundlagen wie der Flachs.
„Durch 72 Hände geht der Flachs, eh' er als Leinenhemd getragen wird" sagt der Volksmund. Erforderlich sind viele Kenntnisse und viele Erfahrungen, und deshalb konnten sich die ersten berufsmäßigen Spinnerinnen und Handweber damit besser spezialisieren und von anderen abheben, als es die viel einfacher zu verarbeitende Wolle oder die eben genannten Handwerke erbracht hätten.
Die einjährige Pflanze wurde von den Landwebern selbst
angebaut und versponnen. Sobald das untere Drittel der Stengel »zeisiggelb«
geworden und die Blätter abgefallen waren, wurde der Flachs gerauft.
Beim Raufen begann schon das Sortieren nach Länge, Stärke und Reife
der Stengel, die dann auf dem Feld ausgebreitet wurden, bis sie lufttrocken
waren. Danach wurden die Samenkapseln (Leinknoten) abgedroschen, später
mit der Riffel oder der Riffelbank, einem eisernen Kamm, abgeriffelt.
Gemeinschaftliches Flachsriffeln der Nachbarschaft
auf dem Berghof in Hinsbeck (nach 1918)
Anschließend wurde der Bast in Flachsgruben mehrere Tage geröstet (gerottet).
Die Bedeutung der Textilherstellung für die Hinsbecker
Bevölkerung wird auch mit der Vielzahl von Flachsgruben sichtbar,
die in der Gemeinde und der näheren Umgebung nachgewiesen sind. Den
schriftlichen Quellen ist für Hinsbeck nicht zu entnehmen, ob es in
der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert spezialisierte Flachsbauern
gegeben hat. Thomas Krüger, der sich intensiv mit den Flachsgruben
in Waldniel und Hinsbeck beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, „...
daß es Bauern waren, die sich mit dem Flachsrösten beschäftigten.
Auch die größten, geplant und organisiert erscheinenden Flachsrösten
... lagen ganz in bäuerlicher Hand". In Hinsbeck wurden aus der
Vielzahl der noch heute vorhandenen Flachskuhlen vier Grubenfelder
zur Eintragung in die Liste der geschützten Bodendenkmäler vorgeschlagen.
Durch die Arbeit der biologischen Station Krickenbecker Seen e.V.
sind weitere Flachsgrubenfelder mit über einhundert Gruben bekannt
geworden.
Diese Röstgruben waren weitab von den Häusern außerhalb von Hinsbeck
angelegt, weil sich beim Rotten, dem Faulen also, sehr belästigende
Gerüche entwickelten. Wer sich mit der Flachsröste in solchen Gruben
befassen wollte, aber keine eigenen besaß, konnte von der Gemeinde
Flachsgruben und Spreitplätze pachten. Letztere sind größere freie
Flächen in der Nähe der Gruben, wo der geröstete Flachs zum Trocknen
ausgebreitet werden konnte. Der Erlös kam der Armenfürsorge zugute.
So ist es im Protokollbuch am 21. Juli 1825 vermerkt. Die Zahlung
der Pacht sollte an St. Martin zugunsten der Armenkasse erfolgen.
Pächter hatten sich allein an der hier erwähnten Verpachtung beteiligt.
Es handelt sich um Flachsgruben u. a. in Voursenbeck, Oirlich, Büschen,
Glabbach, Dorf, Hübeck, Ophoven und Karstraße. 1836 wurden 28 Flachsgruben
in Barloer Brücke meistens zu je zehn Silbergroschen verpachtet, zu
zahlen an Allerheiligen 1837. Die eingeräumte lange Zeit bis zur Zahlung
machte es auch wenig Bemittelten möglich, solche Arbeiten auszuführen,
denn sie konnten ihre Schulden begleichen, nachdem sie in der Regel
das fertige Produkt verkauft hatten. Die Qualität der Erzeugnisse
war für den Erfolg maßgebend. Sogar bei den Flachsgruben wurde genau
auf deren Güte geachtet. Bei einer Versteigerung von acht Gruben an
der sogenannten Sonnenbeek, die den Meistbietenden für fünf Jahre
von der Gemeinde zur Benutzung überlassen werden sollten, wurde zwischen
gut, groß und gut, groß und sehr gut und schlecht unterschieden. Die
schlechte Grube ist dann auch nicht angesteigert worden.
Am 17. Januar 1840 wurden Flachsgruben an der Sonnenbeek verpachtet.
„Bezahlt wird mit Christfest 1840 ... die ... Rasen werden dort gestochen,
müssen aber an selbiger Stelle bleiben". Das ist eine erstaunliche
Vorschrift, die jedoch für das niederrheinische Gebiet nicht ungewöhnlich
ist. Es handelt sich um eine Umweltschutzanordnung, denn beim Einsenken
der Flachsbündel in die Wassergruben wurden obenauf u. a. auch Grassoden,
Rasenstücke zum Beschweren gelegt, damit der Flachs nicht hochschwimmt.
Die Gemeinde verlangte also, daß diese Rasenstücke später wieder an
den Stellen angesetzt werden mußten, wo sie gestochen waren.
Der geröstete Flachs wurde dann getrocknet (gedörrt)
und gebrochen.
Das Flachsbrechen ging am besten vonstatten, wenn die gerösteten Stengel
sehr ausgetrocknet waren. Eine große Gefahr für die Dörfer bestand
darin, daß die Stengel in die Backöfen gelegt wurden, nachdem das
Brot herausgenommen worden war. Aber der kleinste Funken aus dem Feuer
genügte, um große Brände entstehen zu lassen, an denen manches Dorf
zugrunde gegangen ist. Deshalb erließ für Hinsbeck der Bürgermeister
1847 einen Beschluß der Feuerpolizei, daß in der Nähe der Gebäude
bis zu 100 Schritte Entfernung kein Flachs gebrochen werden durfte,
wegen des damit verbundenen Darrens auf offenem Feuer. Auch sollte
dafür gesorgt werden, daß dies an einem Ort geschehe, wo Nachteile
dadurch nicht zu fürchten seien.
Nach dem brechen wurde der Flachs mittels einer Schwinge (einer stumpfen Holzklinge) geschwungen, um die holzigen Teile (Schäbe) vollständig zu entfernen, und zuletzt gehechelt. Beim Durchziehen durch die spitzen Stahlnadeln der Hechel wurde der Bast in Fasern zerlegt, und kurze Fasern (Werg, Hede) und noch eingeschlossene Holzteilchen wurden ausgeschieden. Der so gewonnene Reinflachs zeichnete sich durch seidenartigen Glanz, Feinheit und Weichheit aus. Für die Herstellung feinster Garne wurde der Reinflachs noch geklopft und gebürstet sowie durch Kochen mit Pottaschelösung vom Pflanzenleim befreit.
Die Arbeitsschritte der Flachsverarbeitung lauten also: säen, jäten, raufen, riffeln, rösten, darren, brechen, schwingen, risten, ribben, hecheln, spinnen, zwirnen, spulen, haspeln, winden, schären und weben.
Der Flachs und / oder der fertige gewobene Leinen
wurde im Wechselspiel von Sonne und Feuchtigkeit gebleicht.
Das Gebiet an der Sonnenbeek hatte für die Hinsbecker auch diesbezüglich
eine hohe Bedeutung. Hier lagen die Bleichen, die den Hinsbeckern
zu ihrem Spitz-, Spott- oder Necknamen „Jüüt" verhelfen haben:
Auf den langen Bleichwiesen - so weiß die Überlieferung - wurde die
Leinwand in Bahnen von ca. 60 Metern ausgelegt. Die Gewebe waren vorher
mit Pottasche und Seife abgekocht, gebeucht, worden und sollten jetzt
im nassen Zustand an der Sonne die notwendige „schneeige Helle"
bekommen. Das typische Arbeitsgerät der Leinenbleicher ist die Güte,
eine lange Schöpfkelle, mit der aus schmalen Wassergräben entlang
der ausgelegten Leinwand hoch im Bogen Wasser über das Gewebe gesprüht
wird. Die mundartliche Bezeichnung für ein solches Gerät ist „Jüüt",
und das ist auch der Beiname für die Hinsbecker, der sich bis auf
den heutigen Tag erhalten hat. Die Frage, ob an der Sonnenbeek tatsächlich
Bleicherei betrieben wurde, hat durch einen Gaststättennachweis vom
7.4.1838 für die Schenkwirtschaft Wynand Küppers im Haus Hinsbeck
Nr. 283, Beantwortung erfahren. In diesem Verzeichnis ist zu lesen:
„... an der Straße von Straelen nach Hinsbeck und Dülken am Pannenschoppen
genannt. Die große Gemeindebleiche ist daselbst und die Einwohner
haben diese Wirthscbaft nöthig". Eine Erläuterung dazu bietet
ein Schreiben vom 3. März 1852, als beim Landratsamt in Geldern die
Umschreibung der Konzession von Wynand Küppers auf Leonard Hügen beantragt
wurde. Die Begründung dafür war folgende: „Die Fortführung der Wirtschaft
von dem genannten Hause, das an dem Wege von Straelen nach Dülken
belegen, ist um so mehr öffentliches Bedürfnis, als die große Gemeindebleiche
in dessen Nähe liegt, und hier die Leute für sich Obdach so wie für
das zu bleichende Leinen einen sicheren Bewahrungsort finden".
Der von Appeldorn im Kreis Kleve zugezogene Leonard Hügen war Ackerer
und Dachziegelbäcker und hatte wohl auch Interesse an der schon damals
vorhandenen Dachziegelei gehabt, die kurz „Panneschoppen" genannt
wurde. Die Gastwirtschaft Waldesruh wird auch heute noch als „De Poan"
bezeichnet.
"de Hänsbäcker-Jüüt" - Ein Bleicher bei
der Arbeit, Stich 17. Jahrhundert.
Quelle:
Walter Tillmann, aus Aufsatz Handel, Gewerbe und Landwirtschaft in
Hinsbeck, in Hinsbeck, Beiträge zur Geschichte, Sprache und Natur
einer niederrheinischen Gemeinde, Schriftenreihe des Kreises Viersen
42, Viersen 1997 ISBN 3-931242-13-7
Literatur:
Walter Tillmann, Spinnen und Weben. Textilverarbeitung
am Niederrhein (= Schriftenreihe des Museumsverems Dorenburg 34),
Köln/Bonn 1981.
Kisch, Textilgewerbe, S. 98ff. mit besonderer Berücksichtigung der
Gladbacher und Krefelder Entwicklung; Paul Koch, Der Einfluß des Calvmismus
und des Mennonitentums auf die Niederrheimsche Textilindustrie. Ein
Beitrag zu Max Weber: „Die Protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus", phil. Diss. München 1928; Walter Tillmann, Die
Haarlemer Leinenbleichereien und der Niederrhein, in: HBV24(1973),
S. 74-83.